Hiss im Maschinenhaus der Kulturbrauerei im Prenzlauer Berg am 16. Februar 2018

Dampfablassen mit Hiss

 

Mitte des 19. Jahrhunderts unternahm der menschliche Geist einen enormen Sprung nach vorn. Er erfand zahllose technische Gerätschaften, die ihm erfolgversprechende Möglichkeiten bescherten, den Nachbarn vom eigenen Größenwahn zu überzeugen. Er erfand Fahrzeuge, die den Menschen schneller von A nach B brachten, zum Beispiel auf großen Dampfschiffen von Europa nach Amerika. Kurz – es war die Zeit der Siegeszüge, die bekanntlich nur dann vorankommen, wenn genügend Verlierer auf der Strecke bleiben. Zwei gewaltige Erfindungen haben sich damals auf den Weg gemacht, der Welt Unheil und Segen gleichermaßen aufzubürden: die Dampfmaschine und die Polka. Die Dampfmaschine, die als Antrieb für Züge, Dampfschiffe und zahllose Produktionsmaschinen ein neues Lebenstempo diktierte, wurde im Rhythmus der Polka adaptiert, kaum dass diese ihre böhmische Heimat Richtung Neue Welt verließ. Hopsend, vorwärtsdrängend tanzten die Menschen im selben Takt, wie die dampfbetriebenen Kolben schlugen und ratterten. Alles im 2/4 Takt, der gleichmäßig dynamisch wirkt, weil jeder schwere Schlag gleich schwer ist. Dem Marsch nicht unähnlich, nur nichts so humorlos. Die Polka ist damit eindeutig die Musik der Dampfmaschinen – Steampolk – und genauso präsentierte sie sich auch, als Stefan Hiss und seine Gruppe im Maschinenhaus der Kulturbrauerei im Berliner Prenzlauer Berg am 16. Februar 2018 auftrat.
Dynamisch und mit treibenden Rhythmen präsentierte der Hans Dampf der Polka sein neues und doch wohlbekanntes Programm auf der Basis weiser Weltsichten, entstanden durch erlittene Qualen, geläutert durch Krisen und zu strahlendem Glanz gebracht durch das beständige Schmirgeln des Sandpapiers des Lebens. Mit lehrreichen Erläuterungen, gesprochenen wie gesungenen, versuchte er den anwesenden Polkahooligans die Polka als Rettungsring für Notfälle in allen Lebensbereichen, aber besonders auf hoher See nahezulegen. Das Programm, das die zahllosen Reisen der Gruppe Hiss in alle Winkel der Welt offenbarte, besaß diesmal deutlich nautischen Charakter. “Südsee, Sehnsucht und Skorbut” heißt das neue Album, das sich im Reisegepäck der Musiker befand. Die christliche Seefahrt, in Segeltuch und Dampf gehüllt, die unendlichen Weiten der Meere und die unendlichen Weiten der Taiga spielten gleichermaßen eine Rolle, wie Seemannsgarn und bewusstseinserheiternde Getränke. Als unangefochtener Polkakönig weiß Stefan Hiss geschickt selbst Nautik und karibisches Flair in seine Musik einzuflechten. Die Polka ist schließlich der Shanty der Landratten, der Hafentango des Dreiseitenhofbauern, die getanzte Sehnsucht des Nichtschwimmers. Da sangen alle Hauptstädter an diesem Abend mit, laut und nicht immer richtig, wenn aus und vor des Meisters Brust die Reisesehnsucht in treibendem Akkordeontakt und wie immer mit leicht dreckiger Stimme herausbrach und Bilder von Sansibar, Seefahrern, Rum und Leidenschaft entstanden und von sibirischer Kälte sowie ewiger, zumindest bis zum nächsten Morgen dauernder Liebe die Rede war. Erklärte Polkaköniginnen, 1,50 in der Höhe, aber mit einem Drehradius von geschätzt sieben Metern schlugen verzückt um sich, mutmaßliche Veganer sangen schwärmerisch den Genussmittel verherrlichenden Text von “Zeugen des Verfalls” mit. Luftgitarrenvirtuosen kopierten den Stil des Polkagitarristen Thomas Grollmus während seiner exzellenten Solomomente. Andere versuchten, die elegante Mimik des Bassisten Volker Schuh zu lesen.
Der Boden der alten Industriehalle vibrierte bei Speedpolka, federte bei Reggaepolk und schwankte beim gemeinsamen Schunkeln, das sich wie ein satirischer Protest gegen die industrielle Herstellung von Volksmusik ausnahm. Und natürlich verdrückte sich manch jung gebliebener Gast eine Träne während der Hommage an Österreichs größten Seefahrer Freddy Quinn.
Man hat die Gruppe Hiss in den letzten Jahren immer wieder versucht, mit großartigen Preisen und gerechtfertigten Würdigungen zur Ordnung zu rufen. Die Anmut der Jugend dahin, den Anforderungen der gesellschaftlichen Anständigkeit und Korrektheit nur widerwillig oder gar nicht nachkommend, ziehen die fünf Musiker trotzdem unbeirrt durch die Welt, um unter Zuhilfenahme ungebrochener Spielfreude Menschen mit unterschiedlichsten Lebensplanungen unterhaltsam klarzumachen, dass das Leben viel mehr Dampf besitzt, als ein hipper Selbstgeiselungstrend zu unterdrücken vermag. Dafür gebührt ihnen Dank und Anerkennung.

© Karsten Rube 2018 für Radio-Skala & Folkworld

Aktuell sind Hiss noch auf Tour. Termine findet ihr auf der Seite der Band unter  www.hiss.net