Promenieren Sie mal wieder

Antoine Villoutreix
"Promenade”

Deutschland 2021
15 Tracks; 54:01 min
Sungroove Records
www.antoinevilloutreix.com

Wissen Sie noch, wie das ist, unter den frisch erblühten Bäumen auf dem Boulevard “Unter den Linden” unbeschwert zu lustwandeln? Ja? Dann sind Sie auch schon etwas älter. Denn nicht nur das Virus hat diese Form des Flanierens in weite Ferne gerückt, nein, auch der Begriff Lustwandeln ist vergessen, denn er ist ein Begriff aus der Vormaskenzeit. Und überhaupt haben die Baustelle der Kanzler-U-Bahn, der Schlossneubau und die Jahrzehnte dauernde Sanierung der Staatsbibliothek diese Straße lange vom Promenieren ausgeschlossen. Aber Hoffnung überlebt und es muss ja nicht “Unter den Linden” sein. Promenieren kann man auch an anderen Orten und das selbst im Schnee des Winters mit frühlingsleichter Musik von Antoine Villoutreix. Das Album “Promenade” des französischen Wahlberliners ist voller freundlich duftender musikalischer Blüten, die durch grüne Stadtkieze begleiten. Gleichwohl kann man bei seinen Chansons, Swingmelodien, folkig-rockigen und vom Country inspirierten Songs an der Spree, wie an der Seine spazieren gehen, Flohmärkte besuchen, in Cafès abhängen oder nachts um die Häuser ziehen. All diese Themen einer unbeschwerten Vergangenheit und einer hoffentlich wiedererwachenden Lebenslust in nicht allzu ferner Zukunft, finden sich in den 15 Liedern der CD “Promenade”. Villoutreix baut dabei nicht auf streichzarte Poesie, sondern agiert mit freundlicher Straßenromantik. Für ihn ist die Stadt kein vordergründig ruppiger Ort, sondern Inspiration und Lebensinhalt. Selbst die Melancholie, die er beim Betrachten des grauen Himmels durch das Fenster seiner Wohnung empfindet, hat nichts Deprimierendes. Das Ensemble, das den Musiker durch die Songs begleitet, weist allerhand Namen auf, die auch schon anderen Ortes für ausgezeichnete Produktionen sorgten. So ist Danny Dziuk am Keyboard ausfindig zu machen, ebenso der Kopf vom Club des Belugas Maxim Illion. Mischa Tangien vom Babylon Orchestra arrangierte die Strings im Song “Le Vacarme”. Einige der Streicher sind sonst eher in der Klassik und am Theater zu finden. Und auch vom Modern Balkan Swing Ensembles Django Lassie fanden Musiker zur Produktion, dieses abwechslungsreichen und Lebensfreude weckenden Albums.

© Karsten Rube 2021 für Radio-Skala & Folkworld

Auf Radio-Skala ist die Musik vom Antoine Villoutreix in der Sendung Heimatklang und in der Sendung Tour de France zu hören.

Krämer liebt Deine Tante

Sebastian Krämer
"Liebeslieder an Deine Tante”

Deutschland 2020
18 Tracks; 69:53 min
Broken Silence
www.sebastiankraemer.de

Wirklich Mut macht diese CD beim ersten Hören nicht. Krämers "Liebeslieder an Deine Tante" ist trotzdem ein Meisterwerk der hinterhältigen Lyrik und der musikalischen Feinfühligkeit. Krämer streckt keinen Zeigefinger in die Luft oder ermahnt den Hörer ein besserer Mensch zu werden. Man bemerkt bei ihm eher ein zaghaftes Schulterzucken. "Menschen sind halt so", scheint er zu sagen. "Man muss sie ja nicht mögen." Und doch, neben aller Melancholie, die man in den Stücken hört oder ahnt, schwingen liebevolle Momente auf, wie besonders im Text des Songs "Kein Liebeslied für Dich" oder bei "Mit dazu" zu Hören ist.
Der in Berlin lebende Chansonnier besitzt einen berührend altmodischen morbiden Charme. Neben seiner pointierten Klavierbegleitung lässt er kammermusikalische Perlen erklingen. Es sind wunderschöne Streicherarrangements, die seine Songs untermalen. Dafür zeichnen das Streichquartett Bowhème und die Sonnenunter-Gang verantwortlich. Nahezu klassisch kommt uns Krämer im "Neuen Reiselied". Hier glaubt man fast, Mozart hätte Heinrich Heine vertont. Krämers Tochter Hedwig kommt ebenfalls zum Zuge. "Frau Zielinski und der Finsterling" wäre ein wunderschönes Kinderlied, wäre der Text nicht eine Analyse einer klinisch depressiven Grundschullehrerin aus der Sicht einer Heranwachsenden.
Krämers Lieder sind selbst in den bizarren Momenten, an den Stellen, an denen andere Liederdichter in die Resignation abgleiten, so harmonisch, dass man in einen verhaltenen Freudentaumel verfällt und dabei wieder Hoffnung schöpft. Und sei es nur, weil Krämer einem das Gefühl gibt, dass die deutsche Sprache immer noch ihre schönen Seiten hat.

© Karsten Rube 2020 für Radio-Skala & Folkworld

Auf Radio-Skala ist die Musik vom Sebastian Krämer in der Sendung Heimatklang zu hören.

Sehnsucht nach Ferne – Sehnsucht nach Nähe

Cobario
"Weit weg”

Österreich 2020
10 Tracks; 42:49 min
Independent Audio Management
https://www.cobario.com/

Mit welcher Selbstverständlichkeit wir in der zivilisierten Welt unsere Freiheit genossen haben, merken wir erst jetzt wirklich, wo sie plötzlich auf Grund der Diktatur einer unsichtbaren viralen Macht eingeschränkt ist. Soziale Kontakte, Freundschaften bleiben erhalten, wenn sie digitalen Mustern folgen können. Doch persönliche Momente bleiben auf der Strecke, wenn eine räumliche Distanz besteht. Sie ersetzen, kann das digitale Ersatzleben nicht. Und von der Freiheit des in der Welt Herumstrolchens kann man derzeit nur träumen. Das allerdings intensiv, denn Reisen kann und muss man nun medial: virtuell, literarisch oder musikalisch. Bei Letzterem helfen uns die drei Musiker der Gruppe Cobario aus Wien. “Weit weg” heißt ihr aktuelles Album, und der Titel verweist aktuell nicht mehr nur auf ein Träumen, sondern besitzt bereits einen Hauch des Flehens. “Weit weg” kommen wir, wenn wir uns in den Gedankenflügen verlieren, die die Musiker Herwig Schaffner, Georg Aichberger und Jakob Lackner mit Gitarren und Violine wecken. Für Überraschung sorgt ihre neu gefundene Gesangsstimme, die im aktuellen Album vermehrt in den Titeln erscheint. Scheinbar ziellos treiben sie den Hörer durch die Welt. Beginnen sie mit “El Mariachi” mit etwas Sonnenbrand und träge durchs gedachte Bild rollenden Steppenläufern, nehmen sie in “Lucky Punch” in bester Bluegrassstimmung Fahrt auf. “Kreise im Sand” nahm bei der Produktion, Monate vor der Coronakrise, die derzeit unerfüllbare Sehnsucht vorweg, frei und unbefangen, träumend und voller Freude grenzenlos zu sein. Und so führen sie den Hörer weiter an der Hand durch Welten und Kulturen und zu Menschen, denen sie begegneten, fernab der eigenen Begrenztheit. Aber auch dicht in die unmittelbare Nachbarschaft, wie es in dem schnuckelig, schnulzigen Lied “Mein Wien” herrlich heimelig zu hören ist. Slawische, orientalische, lateinamerikanische und iberische Einflüsse durchziehen ihre durchweg virtuosen musikalischen Linien. Einflüsse, mit denen sie sich in den Jahren vagabundierenden Musizierens an den verschiedensten Orten der Welt infiziert haben. “Weit weg”, das kann Reisen und Freiheit sein, aber auch Trennung und Abstand, wie im Abschlusslied deutlich wird. In beiden Fällen bedeutet “Weit weg” Sehnsucht. Eine Sehnsucht, der wir uns jetzt um einiges bewusster werden. Cobario liefert den passenden musikalischen Tonfall dazu.

© Karsten Rube 2020 für Radio-Skala & Folkworld

Auf Radio-Skala ist die Musik vom Cobario in der Sendung Heimatklang zu hören.

Club des Belugas – Unterhaltsame Brillanz

Club des Belugas
“Strange Things on the Sunny Side”

Deutschland 2019
14 Tracks; 55:33 min
Chin-Chin Records
https://www.club-des-belugas.com/

Die Musik des deutschen Dancefloorjazzprojekts Club des Belugas einfach nur als Cool zu bezeichnen, würde der Sache nicht gerecht werden. Auf ihrem nunmehr elften Album beweisen die Soundtüftler um Maxim Illion und Kitty the Bill, was für ausgezeichnete Musiker und Arrangeure an den Songkreationen beteiligt sind. Der Clubjazz, den man auf "Strange Things on the sunny Side" zu hören bekommt, ist stellenweise impulsiv bis ungezügelt, wie „Quapa“ gleich am Anfang klar zeigt. Der Song "Crazy Lazy Friday Afternoon" wirkt hingegen ziemlich lasziv. Brillante Bläsersätze und eine ausgeflippte Querflöte unterstreichen hier eine gewollt schwüle Atmosphäre. Das Gefühl, glückselig durch die Nacht zu tanzen, vermittelt Iain Mackenzie mit seinem Lied "There's Nothing but you", während der Song, "Running Life" gesungen von Ashley Slater, den aufdringlichen Schmelz eines Brusthaartoupets mit Goldkettchen besitzt. Sehr schön zu hören ist auf dem Album auch, wie sich der Wunsch der Sängerin Maya Fadeeva, sich in den Pool der Clubinterpreten einzupassen, erfüllt hat. Zwei Songs mit der charismatischen Stimme Mayas kann man auf der CD hören. Mit wie wenig Mitteln die Musiker eine zum Hinschmelzen cineastische Stimmung zaubern können, beweist der Schlusssong "La Taillade". Streicher, hintergründige Bläser, eine gleichmäßige Rhythmussektion und eine indische Trommel beschwören vereinnahmende Bilder von einem endlosen Horizont über blauem Wasser herauf. Die Covergestaltung ist erneut eine Augenweide, die Musik eine Ohrenweide. Für mich die bisher reifste CD vom Club des Belugas. Enorm unterhaltsame Brillanz.

© Karsten Rube 2020 für Radio-Skala & Folkworld

Auf Radio-Skala ist die Musik vom Club des Belugas in der Sendung Night Owl Club Lounge zu hören.

Jo Jo Effect – Versuchungen mit Electrojazz

JoJo Effect „Atlantic City Flow“

Deutschland 2018
15 Tracks; 58:46 min
Chin-Chin Records
www.jojo-effect.de

Der Jojo-Effekt schlägt bekanntlich nach zwei Seiten aus. Und das mit sich immer mehr verstärkender Amplitude. Meist ist man nur von einer Seite begeistert. Bei der NuJazz Formation JoJo Effect verhält sich das nicht anders. Solange man ohne deren Musik auskommen muss, sind die Mundwinkel unten. Wenn man endlich wieder was von ihnen hört, hebt sich das Lächeln.
JoJo Effect agieren seit zwölf Jahren in der NuJazz-, Electroclub- und Loungeszene. Sie gehören auf jeden gelungenen Partymix, beleben die Jazzclubs, Bars und geben den gut gelaunten Schlaflosen den Takt der Nacht vor. “Atlantic City Flow” weist musikalisch und stilistisch den Weg in den nächsten Ballroom. Brillante Stimmen treffen auf diesem Album auf exzellente Soundkonstruktionen, Electrosamples auf erstklassige Instrumentalkünstler. Jürgen Kausemann, Kopf des Effects, sitzt an allen Tasteninstrumenten vom Klavier bis zum Computer, zupft die Saiten von Gitarre, Bass und Ukulele. Reiner Winterschladen, Karlos Boes und Lars Kuklinski treiben ihren Atem in die Blasinstrumente ihrer Wahl. Bei allem Respekt vor den Instrumentalkünstlern auf diesem Album, muss ich aber trotzdem die unverwechselbaren Stimmen von Brenda Boykin, der Soulröhre aus Kalifornien, Nelly Simon von Zouzoulectric, Saskia Jonker mit ihrem warmen Timbre und Anne Schnell, der Songwriterin und musikalischen Pulsbeschleunigerin des Projekts deutlich hervorheben. Und natürlich Iain Mackenzie, dem man auf Grund seiner stimmlichen und persönlichen Ausstrahlung nachsagen darf, dass für ihn der Jazz wahrscheinlich erfunden wurde. “More or Less” ist das Herzstück des Albums und wird vom Londoner Sänger Iain Mackenzie interpretiert, wie eine entgleitende Liebesgeschichte. Vorgetragen vor dem hochgeschlagenen Mantelkragen im Nieselregen der voranschreitenden Nacht. (Mehr zum Song „More or Less“ hier … ). Dunkel wird die Stimmung direkt danach bei der Coverversion von “Knights in White Satin”. Ein denkbar passender Anschlusssong. Trotzdem bleibt das Album »Atlantic City Flow« im Gesamtkonzept seinem Stil treu, poppig und witzig, soulig und spritzig zu swingen und grooven.
“Atlantic City Flow” ist die fünfte Produktion des Soundwunders um den Musiker und Produzenten Jürgen Kausemann. Persönlich wirkt sich der JoJo-Effekt von JoJo Effect bei mir bereits so aus, dass die Mundwinkel nun schon grinsend bis zu den Ohren wandern, wenn ich mir ihre Songs anhöre. Wo soll das nur hinführen.

© Karsten Rube 2018 für Radio-Skala & Folkworld

Auf Radio-Skala ist die Musik von JoJo Effect in der Sendung World Jazz und in der Sendung World Dance zu hören.

Die besondere CD: Marc Pendzich „Selma“

Hoffnungsvolle Lieder im Angesicht des Abgrunds

Wie man angesichts von Not und Entbehrung Gedichte von solcher Lebens- und Liebeslust wie Selma Merbaum schreiben kann, ist auch heute 75 Jahre nach dem Tod des damals 18 jährigen jüdischen Mädchens in einem Arbeitslager der Nationalsozialisten kaum begreifbar. Continue reading

Telmo Pires – Leidenschaft aus Lissabon

Telmo Pires „Ser Fado“

 

Wenn man vom Fado, dem portugiesischen Universalbegriff für gesungenen Leidenschaft reden will, kommt man letztlich nie an Amalia Rodrigues vorbei. Die Königin des urbanen Blues der Portugiesen beherrscht auch nach ihrem Tod, und der ist bald zwanzig Jahre her, die Musik der Fadosängerinnen und -sänger. Das ist bei aller Leistung Amalias ein Problem für die nachfolgenden Generationen. Stars, wie Misia, Mariza, Carminho werden immer an ihr gemessen und stilistische Variationen, eigene Wege im Fado mit Argusaugen beobachtet. Telmo Pires könnte mehr als ein Lied davon singen. Tut er aber nicht, denn er hat längst seine eigene Fadostimme gefunden. Das Album „Ser Fado“ hat er in Lissabon produziert. Klingt erstmal nicht ungewöhnlich für ein Fadoalbum. Aber der Weg dahin war lang und ungewöhnlich. Pires ist in Portugal geboren, im Ruhrgebiet aufgewachsen und in Berlin erwachsen geworden, wo er sich ausgiebig dem Fado widmete. In Berlin ist alles exotisch Wirkende erstmal willkommen. Ein Fadosänger, der Berlinern kann, macht diese Stadt noch ein bisschen bunter. Und doch, ist ein Fadosänger in Berlin etwas anderes als ein Faodsänger in Lissabon. Kann man sich dort behaupten, wo das Lied seinen Ursprung, seine Heimat, seine Jünger und Wächter hat? Pires tat den gewagten Schritt und zog nach Lissabon, um die Luft und die Seele der Stadt am Tejo zu atmen. „Ser Fado“ – „Fado sein“ ist das Ergebnis seines Versuches, eins zu werden mit der Stadt Amalias, Fuß zu fassen in seiner Heimat, ohne zu vergessen, wo seine Wurzeln über die Jahre die Kraft für sein Werden fanden. Fado ist oft auch ein Ausdruck für Zerrissenheit, für die Saudade, die Sehnsucht nach etwas, das sich immer dort befindet, wo man sich selbst im Moment nicht befindet. Wenn man ein Kind zweier Welten ist, wie Telmo Pires, mag Fado vielleicht die perfekteste aller Ausdrucksmöglichkeiten sein. Es spricht für seine Kunst, dass er sich dabei nicht von den Trends verbiegen lässt, die den Fado aus der urbanen Umarmung in die Globalisierung der Weltmusik drängt. Popmusik war Fado nie, auch wenn heute E-Orgeln, Schlagzeug und elektronische Klangelemente diese Musik modernisieren sollen – und sie häufig genug nur verwässern. Auf „Ser Fado“ hat Pires sich dem Ursprung des Fados in seiner Klarheit genähert, ohne dabei alte Klangbilder zu kopieren. Die Starke des Albums liegt dabei darin, dass Telmo Pires nicht interpretiert, sondern den Fado aus seinem Herzen sprechen lässt. Lediglich am Ende der CD greift er im Lied „Silêncio no meu coração“ auf eine Idee von Amalia Rodrigues zurück. Womit sich der Kreis schließt. Denn an Amalia kommt man im Fado letztlich nicht vorbei.

Karsten Rube für Radio-Skala & www.folkworld.eu