Krämer liebt Deine Tante

Sebastian Krämer
"Liebeslieder an Deine Tante”

Deutschland 2020
18 Tracks; 69:53 min
Broken Silence
www.sebastiankraemer.de

Wirklich Mut macht diese CD beim ersten Hören nicht. Krämers "Liebeslieder an Deine Tante" ist trotzdem ein Meisterwerk der hinterhältigen Lyrik und der musikalischen Feinfühligkeit. Krämer streckt keinen Zeigefinger in die Luft oder ermahnt den Hörer ein besserer Mensch zu werden. Man bemerkt bei ihm eher ein zaghaftes Schulterzucken. "Menschen sind halt so", scheint er zu sagen. "Man muss sie ja nicht mögen." Und doch, neben aller Melancholie, die man in den Stücken hört oder ahnt, schwingen liebevolle Momente auf, wie besonders im Text des Songs "Kein Liebeslied für Dich" oder bei "Mit dazu" zu Hören ist.
Der in Berlin lebende Chansonnier besitzt einen berührend altmodischen morbiden Charme. Neben seiner pointierten Klavierbegleitung lässt er kammermusikalische Perlen erklingen. Es sind wunderschöne Streicherarrangements, die seine Songs untermalen. Dafür zeichnen das Streichquartett Bowhème und die Sonnenunter-Gang verantwortlich. Nahezu klassisch kommt uns Krämer im "Neuen Reiselied". Hier glaubt man fast, Mozart hätte Heinrich Heine vertont. Krämers Tochter Hedwig kommt ebenfalls zum Zuge. "Frau Zielinski und der Finsterling" wäre ein wunderschönes Kinderlied, wäre der Text nicht eine Analyse einer klinisch depressiven Grundschullehrerin aus der Sicht einer Heranwachsenden.
Krämers Lieder sind selbst in den bizarren Momenten, an den Stellen, an denen andere Liederdichter in die Resignation abgleiten, so harmonisch, dass man in einen verhaltenen Freudentaumel verfällt und dabei wieder Hoffnung schöpft. Und sei es nur, weil Krämer einem das Gefühl gibt, dass die deutsche Sprache immer noch ihre schönen Seiten hat.

© Karsten Rube 2020 für Radio-Skala & Folkworld

Auf Radio-Skala ist die Musik vom Sebastian Krämer in der Sendung Heimatklang zu hören.

Sehnsucht nach Ferne – Sehnsucht nach Nähe

Cobario
"Weit weg”

Österreich 2020
10 Tracks; 42:49 min
Independent Audio Management
https://www.cobario.com/

Mit welcher Selbstverständlichkeit wir in der zivilisierten Welt unsere Freiheit genossen haben, merken wir erst jetzt wirklich, wo sie plötzlich auf Grund der Diktatur einer unsichtbaren viralen Macht eingeschränkt ist. Soziale Kontakte, Freundschaften bleiben erhalten, wenn sie digitalen Mustern folgen können. Doch persönliche Momente bleiben auf der Strecke, wenn eine räumliche Distanz besteht. Sie ersetzen, kann das digitale Ersatzleben nicht. Und von der Freiheit des in der Welt Herumstrolchens kann man derzeit nur träumen. Das allerdings intensiv, denn Reisen kann und muss man nun medial: virtuell, literarisch oder musikalisch. Bei Letzterem helfen uns die drei Musiker der Gruppe Cobario aus Wien. “Weit weg” heißt ihr aktuelles Album, und der Titel verweist aktuell nicht mehr nur auf ein Träumen, sondern besitzt bereits einen Hauch des Flehens. “Weit weg” kommen wir, wenn wir uns in den Gedankenflügen verlieren, die die Musiker Herwig Schaffner, Georg Aichberger und Jakob Lackner mit Gitarren und Violine wecken. Für Überraschung sorgt ihre neu gefundene Gesangsstimme, die im aktuellen Album vermehrt in den Titeln erscheint. Scheinbar ziellos treiben sie den Hörer durch die Welt. Beginnen sie mit “El Mariachi” mit etwas Sonnenbrand und träge durchs gedachte Bild rollenden Steppenläufern, nehmen sie in “Lucky Punch” in bester Bluegrassstimmung Fahrt auf. “Kreise im Sand” nahm bei der Produktion, Monate vor der Coronakrise, die derzeit unerfüllbare Sehnsucht vorweg, frei und unbefangen, träumend und voller Freude grenzenlos zu sein. Und so führen sie den Hörer weiter an der Hand durch Welten und Kulturen und zu Menschen, denen sie begegneten, fernab der eigenen Begrenztheit. Aber auch dicht in die unmittelbare Nachbarschaft, wie es in dem schnuckelig, schnulzigen Lied “Mein Wien” herrlich heimelig zu hören ist. Slawische, orientalische, lateinamerikanische und iberische Einflüsse durchziehen ihre durchweg virtuosen musikalischen Linien. Einflüsse, mit denen sie sich in den Jahren vagabundierenden Musizierens an den verschiedensten Orten der Welt infiziert haben. “Weit weg”, das kann Reisen und Freiheit sein, aber auch Trennung und Abstand, wie im Abschlusslied deutlich wird. In beiden Fällen bedeutet “Weit weg” Sehnsucht. Eine Sehnsucht, der wir uns jetzt um einiges bewusster werden. Cobario liefert den passenden musikalischen Tonfall dazu.

© Karsten Rube 2020 für Radio-Skala & Folkworld

Auf Radio-Skala ist die Musik vom Cobario in der Sendung Heimatklang zu hören.